Untätige bewaffnete Jungs | NZZ (2024)

In Syriens Süden liegt die Hochburg der moderaten Rebellen. Sie galten einst als Hoffnungsträger. Doch um die «Southern Front» ist es still geworden.

Monika Bolliger, Amman

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Müde und frustriert sei er, sagt der Herr mittleren Alters beim Treffen in einer Hotellobby in der jordanischen Hauptstadt Amman. Er ist ein wichtiges Mitglied der syrischen Opposition. Alle arbeiteten für irgendjemanden, aber niemand arbeite für Syrien, klagt er. Es sei nicht gelungen, eine Alternative zum Regime aufzubauen; es werde allmählich spät. Unser anonymer Gesprächspartner ist affiliiert mit der «Southern Front» (arabisch: al-Jabha al-Janubiya), einem Dachverband moderater Rebellengruppen im Süden Syriens. Dort, in der Region von Daraa, war 2011 die erste Protestbewegung entstanden, weshalb Daraa «Wiege der Revolution» genannt wird. 2014 wurde die dezidiert moderate Southern Front begründet. In sie wurden grosse Hoffnungen gesetzt.

Jordanisches Grenzregime

Die Southern Front bemüht sich um das Vertrauen von Minderheiten. Ihre Rebellen werden in Kriegsvölkerrecht ausgebildet. Im Gegensatz zur Jihadisten-Hochburg Idlib im Norden Syriens ist die Radikalisierung hier weniger fortgeschritten. Jordanien hielt die Grenze dicht und verhinderte, dass ausländische Jihadisten sich der Rebellion anschlossen. Wegen starker Stammesstrukturen ist die Region weniger anfällig für Chaos. Ein geheimes Military Operations Center (MOC) in Amman koordiniert die Aktivitäten der Southern Front. Unter anderen die Vereinigten Staaten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Grossbritannien unterstützen diese Rebellen via MOC. Jordanien, das die Grenzübergänge kontrolliert, hält die Schlüssel in der Hand.

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Issam al-Reis, heute Sprecher der Southern Front, hatte zunächst mit den Rebellen im Norden gekämpft. Der ehemalige Offizier der syrischen Armee, der zu Beginn des Aufstandes desertierte und sich den Rebellen im Norden anschloss, war bald desillusioniert über den Zustrom ausländischer Jihadisten. «Plötzlich waren überall Tschetschenen, und die Kaida breitete sich aus», erinnert er sich. Im Süden sah Reis hingegen Anlass zur Hoffnung. Heute wirkt seine Hoffnung gedämpft. Doch was ist schiefgelaufen? Warum ist es still geworden um die Southern Front?

Ein syrischer Aktivist vergleicht im Gespräch die Southern Front mit einer Katze, die jemand am Nacken festhält. Das MOC untersagt seit längerer Zeit Offensiven. Jordanien habe den Krieg im Süden eingefroren, sagt ein Beobachter. Amman, das sich im syrischen Konflikt von Anfang an neutral zu positionieren versuchte, will es sich nicht mit einem Regime verscherzen, das militärisch auf dem Vormarsch ist. Zudem, so sagen mehrere Quellen, habe Russland Jordanien unter Druck gesetzt, im Falle neuer Offensiven seine Luftangriffe im Süden zu intensivieren, was Amman zwingen könnte, seine Grenzen für eine neue Flüchtlingswelle zu öffnen. Auch Israel hat ein starkes Interesse, dass die Lage in seinem Grenzgebiet nicht eskaliert und überschaubar bleibt.

Gescheiterte Offensive

Militärisch war die Situation nie leicht. «Immer, wenn das Regime kurz vor dem Fall war, bekam es Hilfe vom Ausland: Zuerst kam der libanesische Hizbullah, dann die Iraner, dann die Russen»: Diese Klage hört man von Regimegegnern oft. Die USA blockierten derweil die Lieferung von Flugabwehrraketen. Im Weissen Haus befürchtete man, dass sie in falsche Hände geraten könnten. Zudem schien die Angst vor einem Fall von Damaskus und dem Chaos, das darauf folgen könnte, in westlichen Hauptstädten gross. Manche Politiker schienen zu hoffen, mit der begrenzten Unterstützung moderater Rebellen das Regime zu Verhandlungen und zu einer politischen Lösung zwingen zu können. Es kam bekanntlich anders.

Noch vor der russischen Intervention musste die Southern Front eine demoralisierende Niederlage einstecken. Die Operation «Sturm des Südens» im Sommer 2015 zur Eroberung der geteilten Stadt Daraa scheiterte, trotz materieller Unterstützung und Training durch das MOC. Das Regime reagierte mit dem Abwurf von Fassbomben, weshalb die Kämpfe für die Zivilbevölkerung rasch unerträglich wurden. Städtisches Gebiet zu erobern, sei enorm schwierig, sagt Issam al-Reis. Man denke umgekehrt an Ostaleppo: Der Preis für die Eroberung durch das Regime liegt in der weitgehenden Zerstörung der Stadtviertel, von den vielen Toten ganz zu schweigen.

Jetzt, sagt Issam al-Reis, stellten die Gruppen der Southern Front noch etwa 35 000 Kämpfer. 10 000 seien ums Leben gekommen, unter ihnen die fähigsten – jene, die von der Armee desertiert waren und damit Erfahrung mitgebracht hatten. Jetzt seien die Kämpfer junge Männer vom Dorf und Schreiner, die zu Warlords aufgestiegen seien. Es fehlt an einer geeigneten Führung für den Dachverband der nicht weniger als 54 Rebellengruppen. Kritiker sagen, die ausländischen Unterstützer hätten ihnen genehme Leute zu Chefs gemacht, die vor Ort zu wenig Autorität hätten. Jede Nation habe ihre eigenen Favoriten. Und mit Störmanövern der Kaida und der Ausbreitung von Zellen des IS hat sich eine weitere Front aufgetan.

Kriegswirtschaft, Korruption

Unterdessen grassiert wie überall im Krieg die Korruption. Bei Kämpfen unter den Rebellen gehe es zu neunzig Prozent um Geld, sagt ein Beobachter. Als die Offensiven eingestellt worden seien, hätten Rebellenführer einen Teil der Saläre der Kämpfer für sich abgezweigt und Immobilien in Jordanien gekauft. Das MOC stoppte die Zahlungen, doch dann begannen die Kämpfer, zu Jihadisten abzuwandern, die ihnen Löhne zahlten. Jetzt transferiert das MOC die Löhne direkt nach Syrien, damit das Geld zumindest nicht in Jordanien bleibt.

Tausende bewaffnete junge Männer haben nichts zu tun. Jihadisten kritisieren die Southern Front für ihre Untätigkeit und versuchen, deren Kämpfer zum Übertritt zu bewegen. Bewaffnete Männer unterminieren Versuche, eine zivile Ordnung aufzubauen. Zwar ist es gelungen, ein breit akzeptiertes Gerichtssystem aufzubauen. Trotzdem wird dessen Tätigkeit von Warlords behindert. Eine Zeitlang wurden Führungsfiguren Opfer mysteriöser Attentate. Ob Islamisten, die Geheimdienste des Regimes oder lokale Machtkämpfe dahinter standen, weiss man oft nicht.

Was erwartet nun die «Wiege der Revolution»? Beobachter rätseln seit der Vertreibung der Rebellen aus Aleppo, welche Front Asad und seine Verbündeten als Nächstes ins Visier nehmen werden. Derzeit konzentrieren sie ihre Angriffe auf das Umland von Damaskus. Werden sie danach Richtung Süden vorrücken und die letzte Bastion der moderaten Opposition anvisieren? Wird mit jordanisch-russischer Vermittlung ein Abkommen zur Kapitulation der Rebellen im Süden ausgehandelt? Da diese von Jordanien abhängig sind und wohl nicht die humanitäre Katastrophe von Aleppo wiederholen möchten, bliebe ihnen vermutlich kaum eine Wahl. Der Generalstabschef der jordanischen Streitkräfte Mahmoud Freihat sagte kürzlich in einem Interview, es sei wahrscheinlich, dass der Süden als Nächstes komme. Im Falle einer Rückeroberung durch die syrische Armee werde Jordanien die Grenzposten öffnen. Damit, so scheint es, hat er die Southern Front öffentlich fallengelassen.

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